Auszug aus Mondlandung 2.15

Der Sommer der Flüchtlinge

Die Bürgermeisterin bekam den Anruf der Bezirksregierung um 10 Uhr 58. In ihrem Büro in Köln las Anne den Post auf facebook. Um acht Uhr Abends waren drei Busse mit einhundertfünfzig Flüchtlingen in Witten angekommen. Das DRK hatte in Windeseile eine Turnhalle hergerichtet.

Am nächsten Tag rief Annes Freundin an. Sie wolle einige von den neu angekommenen Gästen durch die Stadt führen und sie mit zum Museumsfest nehmen. Anne sagte zu. In der Halle lief alles ganz gut. Schnell war eine Essensausgabe in der kleinen Gymnastikhalle eingerichtet worden, davor stand das sogenannte Küchenzelt. In der großen Halle waren Doppelstockbetten mit weißen Stellwänden voneinander getrennt. Das Wetter war hervorragend und auf dem Platz vor der Halle war ein unglaubliches Gewimmel von Menschen. Hektik war aber nicht zu spüren.

Martha und Anne gingen in das provisorisch eingerichtete Büro des DRK und meldeten sich an mit der Bitte, ob sie fragen dürften, wer mitkommen möchte und bekamen die Erlaubnis in die Halle zu gehen. Schon zwei Tage später wäre das nicht mehr möglich gewesen, denn immer mehr Bürger der Stadt kamen zur Halle und wollten nicht nur mithelfen, sondern auch neugierig in alle Ecken schauen. Deswegen wurde den Flüchtlingen schon bald die dringend notwendige Privatsphäre zugestanden und niemand durfte in die Halle, der dort nicht schlief oder putzte.

Aber in diesen allerersten Tagen war noch alles ganz offen und zugänglich. Etwas schüchtern standen sie in der Halle zwischen Betten, Babys, Müttern und kleinen Haufen mit Habseligkeiten. Martha sprach eine Frau an, ob sie Englisch konnte. Gleich ein Treffer. Nina kam aus Albanien und fand die Idee super. Schnell organisierte sie ihre beiden kleinen Kinder weg, wahrscheinlich passte ein Freundin auf sie auf, und zog sich ein schönes Kleid an. In der Halle selbst liefen alle nur im Jogginganzug herum aber Nina wusste offensichtlich was Stil ist. Schnell sprach sich die Nachricht jetzt herum und als Martha und Anne loszogen, kamen fast dreißig der neu angekommenen Bewohner des Camps mit ihnen mit. Anne kam sich vor, wie bei einer Schulklasse. Martha ging vorne, sie hinten. Als sie schon ein ganzes Stück die Straße hinunter waren, kamen immer noch einige Nachzügler dazu. Alle waren sehr gut gelaunt und viele sprachen Englisch.

Auf dem Weg zum Rathaus, der ersten zentralen Station, kam Anne schon mit einigen ins Gespräch. Besonders die jungen Männer aus Syrien plauderten freundlich mit ihr und hatten schnell ganz viele Fragen. Warum sind bei euch so wenige Menschen auf der Straße? Das wusste sie jetzt auch nicht so schnell. Natürlich wusste sie, dass das Getümmel in Damaskus oder Alleppo sicherlich eine ganz andere Dimension hatte als hier, aber dass es wirklich so wenige Fußgänger gab, war ihr auch noch nie so aufgefallen. Sie überlegte kurz und stellte dann fest, dass auch sie selbst fast alle Wege mit dem Auto erledigte, dann direkt bis vor die Tür fuhr und nur wenige Meter zu Fuß ging. Nur in Köln und Berlin ging auch sie zu Fuß, aber nur, weil der Verkehr dort so chaotisch war. Und genau dort waren ja auch viel mehr Menschen auf den Beinen. Gerade lernte sie, dass Deutsche in den normalen Zentren offensichtlich einen Verwöhnschaden hatten und deswegen alles mit dem Auto erledigten.

Besonders lustig fand Anne die Frage nach dem Kunstwerk am Brunnen. Es war ein ganz normaler Mann. Eine ortsansässige Künstlerin stellte die kleinen, dicken Bürger in Lebensgröße und bunter Kleidung her und verteilte sie in der Stadt. Jetzt wollten die Syrer wissen, wen diese Statue denn darstelle, und als Anne ihnen erklärte, dass diese Frau nur symbolisch für alle Bürger der Stadt dort stehe und keine Berühmtheit sei, war das Unverständnis groß. Ihr stellt normale Bürger in der Stadt aus? Ja, warum nicht? Die Jungs waren irritiert, vor allem, weil auch der Sackträger auf dem Platz nur ein Symbol für den arbeitenden Menschen sein sollte. Nirgendwo in der Stadt gab es einen Politiker auf Sockeln oder ähnliches. Natürlich, in Wuppertal gab es Engels und in Köln einige Bischöfe. Aber die Kunst des Alltäglichen überwog doch auch hier. Mit diesem Blick auf ihre kleine Stadt mit der mittelmäßigen Kunst, erkannte sie in diesem Moment, dass auch Kunst ein Zeichen von Demokratie sein kann, was die Syrer aus ihrem Land nicht kannten. Kaum war sie eine Stunde mit ihnen unterwegs, hatte sie schon eine neue Erkenntnis gewonnen.

Bei schönstem Sommerwetter zogen sie mit ihrer kleinen Truppe durch die Stadt bis zum Museum. Martha hatte dort Bescheid gesagt und es standen kostenlose Getränke für die Gäste zu Verfügung.

Im Museum hatte sich die Kulturszene der Stadt versammelt. Gediegene Bürger in feiner Kleidung und respektierlicher Haltung am Orangensaftglas. Einige blickten erstaunt, als die für diesen Anlass etwas ungewohnt erscheinende Gruppe ins Museum eintrat und sich über die Wassergläser hermachte. Der Weg hatte etwa eine halbe Stunde gedauert und alle hatten Durst. Aber sowie sie die Gläser ansetzten, verzogen sie das Gesicht und stellten sie zurück auf den Tisch. Anne fragte und fand heraus, dass sie alle keine Kohlensäure mochten und das Wasser sauer fanden. Also stellte sich Anne in dem Trubel an die Theke und bestellte ein Tablett mit Leitungswasser. Das war schon viel besser.

Eine der Frauen, sie kam offensichtlich aus Albanien, hatte sich auf dem Weg sehr schwer getan und war viel zu langsam gegangen, hatte sich oft auf kleine Mäuerchen gesetzt und ausgeruht. Anne dachte, dass es an ihren Flip Flops lag, in denen sie wohl nicht so gut laufen konnte. Aber der Ehemann kramte seine vereinzelten englischen Worte aus und erklärte, dass seine Frau schwanger sei und es ihr schlecht ginge. Es war unmöglich dass sie den ganzen Weg zurück ging. Martha schnappte sich den Praktikanten des Museums und bat ihn, die Familie zurück zur Turnhalle zu fahren.

Eine der umstehenden Frauen hatte in der Zwischenzeit am Kiosk einige Tüten mit Süßigkeiten gekauft und an die mitgekommenen Kinder verteilt. Die saßen glücklich an den Tischen des Museumscafés zwischen Cola und Süßkram und konnten ihr Glück kaum fassen. Dementsprechend war der kleine Junge der schwangeren Frau auch bitter enttäuscht, als er schon gleich wieder ins Auto gebracht und weg gefahren wurde. Er weinte jämmerlich und Anne strich ihm über den Kopf, fest entschlossen, ihm demnächst etwas ganz besonderes zukommen zu lassen.

Zurück im Museum hatten einige der syrischen jungen Männer bereits die Aktionskünstlerin gefunden und schauten ihr gespannt beim Malen zu. Anne zeigte ihnen stolz die ganze Sammlung bildender Kunst in den Ausstellungsräumen und war erstaunt, wie viel diese Jungen über Kunst wussten. Irgendwann musste sie dem Gedränge entfliehen und ging vor die Tür um eine Zigarette zu rauchen. Dort stellte sie fest, dass ihre neuen Freunde diese Idee sofort aufgriffen und gerne auch eine Kippe ansteckten. So standen sie in der Abendsonne vor dem Museum der kleinen Stadt, rauchten und redeten und Anne war auf einmal ganz glücklich, hier mit ihnen zu sein. Es fühlte sich gut an.

Auf dem Rückweg wollten alle noch schnell ein Foto zusammen machen. Die Albaner und Syrer wollten unbedingt die knubbelige Kunstfrau in die Mitte nehmen. Und so endete dieser Tag. Bei Sonnenschein und mit glücklichen Gästen aus aller Welt. Und Anne und Martha waren stolz auf ihre kleine Stadt, die sonst so unscheinbar erschien und heute doch so sehr gestrahlt hatte.

Die Notunterkunft in der Turnhalle hatte erst einmal alles, was für die neuangekommenen Gäste notwendig war. Monate später würde Anne sich wundern, wie generalstabsmäßig alles organisiert war, aber nun war es erst einmal die Improvisation der Idealisten. Das DRK hatte die Idee, am ersten Wochenende ein Willkommens Picknick zu veranstalten. Das Wetter war noch hervorragend und der Sportplatz eine gute Location, um alle zusammen zu bringen. Mittlerweile hatten sich über einhundert Freiwillige aus Witten gemeldet, um zu helfen.

Anne und Erik, ihr Mann, bereiteten einen Schokoladenkuchen vor und gingen am Sonntagnachmittag zu dem Picknick. Es war eine lange Tafel mit Köstlichkeiten und die Stimmung sehr entspannt. Auf Decken saßen alle auf dem Rasen des Sportplatzes. Natürlich hatten sich auch die Bürgermeisterin und der Sozialdezernent eingefunden. Sie gingen brav von Decke zu Decke, um mit allen einen Smalltalk zu halten. Die Flüchtlinge verstanden nicht so ganz, was hier los war, aber sie genossen den Sommersonntag mit gutem Essen und Basketballspielen.

Martha und Anne hatten „ihre“ Schützlinge auf und um ihre Decke versammelt. Durch den Ausflug zum Museum und den Stadtrundgang war eine kleine Gruppe entstanden, die sich nun gerne herzlich umarmen und begrüßen ließ. Der Sozialdezernent setzte sich zu ihnen und hatte eine Menge Ideen. Alle waren sich einig, dass Deutschkurse jetzt das Wichtigste seien. Er meinte, dass ja alle ihren Kindern irgendwie Deutsch beigebracht hätten und das ja auch funktioniert hätte. Dafür brauche man zuerst mal keine besondere Qualifikation. Anne fühlte sich ermutigt und am nächsten Tag startete sie ihre Deutschkurse.

Sie suchte im Keller zwischen den Spielsachen ihrer Kinder und fand das Inventar des Kaufladens. Das wäre doch eine tolle Idee, um den Menschen zuerst einmal die Lebensmittel zu erklären. Sie packte alles zusammen und machte sich am nächsten Tag auf zur Turnhalle. Sie stellte in der Gymnastikhalle, die als Aufenthaltsraum umfunktioniert war, einige der Bierzeltgarnituren zusammen und breitete ihre Holzspielsachen auf dem Tisch aus. Möhren, Äpfel, Flaschen Kuchen, Zwiebeln, Knoblauch, Würstchen, Shampoo…. Eben alles, was man so im Kaufladen hatte.

Zuerst kamen die Kinder. Sie waren ganz begeistert, fassten alles an und Anne wiederholte die Worte für die Sachen. Die Kinder lachten und Anne war schon jetzt begeistert. Dann kamen die Erwachsenen. Für die war ihre Stunde ja gedacht. Nach und nach wurden es immer mehr und schließlich saßen bestimmt fünfundzwanzig Menschen um sie herum. Sie nahm das Obst, dann das Gemüse, erklärte alles, wiederholte, brachte ihnen frisches und Dosengemüse bei, wiederholte. Die Menschen hatten kleine Schreibblöcke aus einer Spende bekommen und saugten alles auf wie ein Schwamm.

Besonders gut fand Anne, dass sich zwei der Dolmetscher mit an den Tisch setzten. Sie waren bereits seit mehreren Monaten in Deutschland, konnten leidlich Deutsch, und halfen nun bei der Übersetzung. Sie wollten auch noch mehr lernen. Sie hätten nie so einen Deutschunterricht bekommen, sagten sie. Alles hatten sie sich selber beigebracht.

Ein Ehepaar fiel ihr besonders auf. Der Mann war sehr verschlossen. Es blieb Anne unmöglich, ihm ein Lächeln zu entlocken. Dani hieß er und seine Frau Nadia. Er war ein Arzt, ein sehr guter Neurologe. Im Sanitätsraum der Turnhalle brachte er sich ein und zeigte seine Fähigkeiten. Seine Frau war Pharmazeutin. Beide kamen aus sehr wohlhabenden Familien und hatten bisher nur die Sonnenseite des Lebens abbekommen. Das Leben in der Turnhalle war für sie eine Qual. Anne versuchte ihnen, die im Gegensatz zu vielen anderen hier gut Englisch sprachen, zu erklären, dass es sich nur um eine Übergangszeit handelte. Dani blieb muffig. Nadia war eher zugänglich. Sie kamen regelmäßig zum Deutschkurs, aber Dani war nicht zufrieden. Er wollte mehr lernen. An einem Tag brachte Anne ein Bilderbuch ihrer Kinder mit. „Die kleine Raupe Nimmersatt.“ Vorher hatte sie diese Geschichte bestimmt tausend Mal ihren Kindern vorgelesen, aber erst jetzt erkannte sie, welche Grammatik und welcher Wortschatz in diesem einfachen Buch steckten. Sie erklärte Seite für Seite. Und dann hatte sie es geschafft: Dani lächelte. Zwar nur kurz, aber sie hatte ihn erreicht. An diesem Abend fuhr Anne glücklich nach Hause.

Die Deutschkurse fanden sehr großen Anklang in der Turnhalle. Die meisten Flüchtlinge waren glücklich, dass sie etwas Sinnvolles mit ihrer Zeit anfangen konnten. Bald schon organisierte sich eine Gruppe Ehrenamtlicher, die ausschließlich Deutschkurse gab. Für Kinder vormittags, für die Erwachsenen aufgeteilt in einfaches Lernen und Fortgeschrittene. Jeden Tag gab es mehrere Angebote. Anne war glücklich darüber ein Teil dieses Angebotes zu sein und dass sie nicht mehr jeden Tag kommen musste. Das DRK organisierte sogar einen alten Bus, in dem der Unterricht abgehalten werden konnte. In der Halle war es einfach zu laut und niemand konnte sich hier konzentrieren. In dem Bus verstauten alle ihre Lehrmaterialien. Anne hatte zwei Kisten mit ihrem Spielzeug, aber auch eine Tafel kam von irgendwo her und Stifte und Hefte. In dem Bus war es dazu auch noch klimatisiert, was in diesem heißen Sommer eine wahre Wohltat war. Vielleicht kamen einige der Flüchtlinge nur wegen der kühlen Temperaturen in den Bus weil es draußen und in der Halle teilweise unerträglich heiß war.

(…)

Mit der großen Welle der Flüchtlinge war die Aufmerksamkeit bei den Menschen gestiegen. Viele wollten nun helfen, aber die, die schon vor einiger Zeit hier angekommen waren, wenige und fast unbemerkt, hatten nicht so viel Hilfe erfahren. Dennoch gaben sie nun alles, was ihnen möglich war. Sie halfen mit ihrem gebrochenen Deutsch bei der Verständigung, sie unterhielten sich mit allen über ihre Erfahrungen und konnten erste Tipps geben, was helfen konnte. Diese „ersten“ Flüchtlinge waren nicht neidisch. Vielleicht ein wenig traurig über ihren eigenen schweren Weg. Aber nun waren sie mit Feuereifer selbst bei der Sache. Mit der Unterstützung aus der Bevölkerung wollten sie es alles besser machen und den Neuangekommenen die bitteren Erfahrungen ersparen, die sie selbst hatten machen müssen. Die Solidarität wurde zum Antriebsmotor für alle. Sie alle, ob gerade frisch angekommene Schutzsuchende, bereits länger hier lebende Migranten oder freiwillige Helfer, sie alle unterstützen sich wie aus einem Guss.

Einer von ihnen war Guy. Er hatte arabische Wurzeln, war aber in Israel geboren. Mit seiner Familie war er vor fünfzehn Jahren nach Deutschland gekommen. Was ihn auszeichnete für die Arbeit in der Halle, waren seine arabischen Sprachkenntnisse. Dass er auch perfekt Hebräisch sprach, wollte er hier niemandem erzählen. Im Gymnasium hatte er den Deutsch Leistungskurs mit einem sehr gut abgeschlossen. Guy hatte für sich und seine Familie alles alleine regeln müssen. Seine über siebzig jährige Mutter musste bis heute alle drei Monate zum Ausländeramt um ihre Aufenthaltsgenehmigung verlängern zu lassen. Und dennoch war Guy hier voll in seinem Element. Nach einigen Wochen kündigte er sogar seinen gut bezahlten und sicheren Job bei einer Krankenkasse und fing fest beim DRK an. Für weniger Geld aber mit Herzblut war er bei der Sache.

Anne genoss die Atmosphäre an der Turnhalle. Jeden Tag nach der Arbeit setzte sie sich auf ihr Fahrrad und radelte zu „ihren“ Flüchtlingen. Martha hatte noch zu ihr gesagt, dass es gefährlich sei, ihr Herz zu verlieren. Aber es war bereits zu spät. Anne hatte ihr Herz verloren an die syrischen Studenten, das Ehepaar, die albanische Familie.

An vielen Abenden dieses Sommers spielte ein DJ Musik. Es war wunderbar, denn die Musik machte alle locker. Sie tanzten und waren vergnügt. Insgesamt erinnerte die Stimmung an ein Feriencamp. Nur für die Flüchtlinge war es das bei weitem nicht. Die Helfer genossen die sommerliche Atmosphäre und die gute Laune. Für die hier lebenden Menschen, war es eine notdürftige Übergangsstation.

In der darauf folgenden Woche hatte Martha die Idee zum Kulturkiosk zu gehen. Martha hatte immer einen Faible für Kultur und das wollte sie den Gästen auch mitgeben. Die kleine Stadt hatte so viel zu bieten. Und so marschierten sie an einem schönen Nahmittag mit einer kleinen Truppe durch die halbe Stadt, um die Kulturkiosk Initiative zu besuchen. Anne ging neben Saleh. Er war immer sofort der erste, der das Gespräch mit ihr suchte. Martha hielt an am Krankenhaus und erklärte, dass hier zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts der zentrale Sammelplatz für die polnischen Gastarbeiter in der Kohle- und Stahlindustrie war. Saleh war verwundert. Warum nehmt ihr so viele Flüchtlinge bei euch auf? Anne grinste und sagte, weil du gerade davon profitierst! Saleh wollte nicht nachgeben. Er schwafelte über die Kurden, die den Syrern ihre Gebiete abnehmen wollten, von den Palästinensern und vielem mehr. Anne hörte erst zu und holte dann tief Luft, um ihrem Unmut Luft zu schaffen. Sie erzählte ihm von der Situation Deutschlands nach fünfundvierzig und dass alles so aussah wie im Moment in Syrien. Nie im Leben hätten sie das alleine geschafft ohne die Hilfe der zahlreichen Gastarbeiter, Spanier, Italiener, Griechen und schließlich den Türken. Auch in der Zeit der Kohlehochzeit wäre ohne die polnischen Gastarbeiter gar nichts gegangen. Sie erzählte ihm, dem Flüchtling, dass die neuen Menschen ein Geschenk an die Wirtschaft waren und Deutschland sehr geholfen hätten. Und dann kam sie zu Palästina. Sie raunzte ihn an, dass der Hass zwischen den Völkern nur von Öl- und Geldbesessenen Politikern und Wirtschaftsmächten geschürt würde. Sie erzählte ihm von der Notwendigkeit des Staates Israel nach dem Holocaust. Sie machte Saleh richtig zur Schnecke und warf ihm vor rassistisch zu sein. Und das hätte in Deutschland keinen Platz. Hier würden sie alle versuchen friedlich miteinander zu leben. Als sie am Kulturkiosk ankamen nahm Saleh ein kleines Plastikarmband vom Gelenk. Er hatte es heute zusammen mit den Kindern geflochten. Er reichte ihr das Armband mit den Worten „You are the best“ und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Anne war völlig verdutzt, aber dann lächelte sie vor Erleichterung. Was hatte sie diesem gerade einmal einundzwanzig Jahre alten jungen Mann zugemutet an einem  seiner ersten Tage in Deutschland. Und er hatte zugehört und ihr voller Vertrauen geglaubt. Anne hatte das Gefühl, eine Saat gelegt zu haben, aber gleichzeitig ahnte sie, dass hier noch sehr viel Arbeit bei vielen neu angekommenen Flüchtlingen zu leisten war.

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